Diesmal ist wirklich alles anders

Es tut mir leid, wenn ich andere Leute kritisieren muss. Aber manchmal geht es einfach nicht anders. Aus dem einfachen Grund, dass wir alle eine Menge daraus lernen können.

Niemand kann vorhersagen, was in der Zukunft passiert. Keiner weiß mit Sicherheit, wohin die Kurse in den nächsten Minuten, Stunden, Tagen, Wochen und Jahren laufen. Du nicht. Ich nicht. Und auch nicht der angesagteste Börsenguru. Niemand.

Und das muss auch so sein. Denn wenn klar wäre, was passiert und wie sich die Kurse entwickeln, dann könnten wir den ganzen Mechanismus der Preisfindung über Angebot und Nachfrage vergessen. Es gäbe keine Unsicherheit und kein Risiko – und damit auch keine Möglichkeit, Trading-Gewinne zu erzielen.

Ein Instrument zur Marktanalyse haben wir aber in der Hand: Die Vergangenheit. Diese ist zwar nicht gerade zuverlässig, was die Anwendung auf die Zukunft betrifft. Nicht umsonst steht unter Renditekurven von Finanzprodukten andauernd “Past performance is not indicative of future returns”.

Aber aus ganz pragmatischer Sicht ist die Vergangenheit das Beste, was wir haben. Sie ermöglicht uns, wahrscheinlichere und unwahrscheinlichere Szenarien zu trennen. Und wenn man sich die langfristigen Börsenphasen genauer anschaut, lässt sich Erstaunliches feststellen: Immer wieder gibt es Phasen des Auf- und Abschwungs. Es gibt Muster, die sich wiederholen. Und verblüffende Parallelen mit früheren Entwicklungen.

“History doesn’t repeat itself, but it does rhyme.” (Mark Twain)

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. Und das gilt ganz besonders an der Börse. Immer wieder kommt es zu ähnlichen Strukturen, die es in der Vergangenheit schon mehrfach gab.

Das heißt natürlich nicht, dass wir die Zukunft kennen. Aber wir können Vergleiche ziehen und Ähnlichkeiten analysieren. Denn es ist fast nie der Fall, dass etwas völlig Neues, nie Dagewesenes passiert. Und deswegen kommt es höchstens in absoluten Ausnahmefällen vor, dass plötzlich alles anders ist, als es bisher war.

Und damit sind wir beim Kern des heutigen Artikels: Es geht um den Satz “Diesmal ist alles anders”. Diese sehr gewagte These wird hin und wieder von sogenannten “Kapitalmarktexperten” fallen gelassen, wenn sie sich einer Sache ziemlich sicher sind.

Und weißt du was? Meist liegen sie damit völlig daneben.

Im Juni 2007 habe ich einen Artikel archiviert, den ich dir heute präsentieren möchte. Das war vor fast genau 8 Jahren. Das Manager Magazin hatte einen Beitrag über Aussagen des damaligen Investmentstrategen und Leiters des weltweiten Privatkundengeschäfts der Deutschen Bank, Klaus Martini, veröffentlicht. Am Rande wurden auch Aussagen seines Kollegen Helmut Kaiser genannt. Titel: “Diesmal ist wirklich alles anders”. Der Artikel ist übrigens heute noch online. [1]

Der Grund, warum ich den Artikel aufgehoben habe? Allein schon wegen der Headline. Allein, weil ich wissen wollte, wie viele der selbstbewusst präsentierten Aussagen sich wohl als falsch erweisen würden. Und ganz besonders wegen folgendem Absatz, den ich beim Lesen als ziemlich überheblich empfand:

“Mit einem Fragezeichen im Gepäck ist Klaus Martini vor zwei Wochen zur Sitzung des globalen Investment Komitee der Deutschen Bank nach Shanghai geflogen. Nach den Gesprächen in der Asien-Metropole verzichtet er nun doch auf das Fragezeichen hinter seiner Aussage: “Diesmal ist wirklich alles anders.””

Und das bei einem Mann, der es besser wissen müsste. Der wissen müsste, dass man vor der Aussage “diesmal ist alles anders” ziemlichen Respekt haben sollte. Und der seiner Analyse mit dem Wort “wirklich” noch zusätzliches Gewicht verlieh.

Hoch gepokert, und leider verloren. Nach Veröffentlichung des Artikels dauerte es keine 4 Monate, bis bei nahezu allen Prognosen genau das Gegenteil eintrat:

● “Warnungen vor dem Platzen der Kreditblase lassen ihn kalt. “Es werden Unfälle passieren, aber sie sollten lokale Geschichten bleiben”, meint der Aktienexperte.” — 4 Monate später: Lehman Brothers Pleite, Kreditmarkt ausgetrocknet, globales Finanzsystem am Abgrund

● “Noch immer dauere die Neueinschätzung der Geldpolitik an, betont sein Kollege Helmut Kaiser. Er geht wie die meisten anderen Beobachter noch nicht davon aus, dass der Zyklus der Zinserhöhungen abgeschlossen ist.” — 4 Monate später: massive globale Zinssenkungswelle der Zentralbanken als eine der verzweifelten Maßnahmen zur Rettung des Finanzsystems

● “Martini begründet seine These, dass dieses Mal wirklich alles anders ist, vor allem mit den Megatrends Globalisierung und Liquidität. … “Das globale Wachstum ist deshalb sehr robust”.” Das Geldinstitut geht davon aus, das die Weltkonjunktur in diesem und im nächsten Jahr um 4,8 Prozent wird [sic!] zulegen wird. — 4 Monate später: globale Wachstumsprognosen stürzen in den Keller, deutlich schrumpfende Weltwirtschaft erwartet

● “Aber nicht nur auf der volkswirtschaftlichen Ebene stehen für den Anlagestrategen die Kursampeln an den Aktienmärkten auf Grün. “Dieses Mal ist es eine breit angelegte Rally”, versichert er. In den kommenden 12 Monaten könnten die Aktienmärkte weltweit denn auch noch 10 bis 15 Prozent zulegen. Konkret erwarten Martini und Kaiser für den Dax am Jahresende einen Stand von 8500 Punkten und nach zwölf Monaten von 9000 Zählern.” — 4 Monate später: DAX steht nach Crash mehr als 2.000 Punkte tiefer und fiel zwischenzeitlich auf rund 4.000 Zähler; bis März 2009 weitere deutliche Abwärtswelle

Mit anderen Worten: 4 Monate später las sich der Artikel wie ein nicht so ganz ernst gemeinter und sarkastisch überspitzter Beitrag im Postillon. Bitter nur, dass es die wirkliche Meinung von Experten war, die damals zum Ausdruck kam.

Ich möchte aber nicht weiter auf den Fehlprognosen herumreiten. Denn Fehlprognosen machen wir alle. Was wir aber auf keinen Fall machen sollten: Den Respekt vor den Märkten verlieren. Zu denken, man sei clever genug, die Märkte zu durchschauen und zu erkennen, dass “diesmal alles anders ist”.

Hier die 3 wichtigsten Dinge, die ich aus der ganzen Story gelernt habe:

● Die Experten an der Börse haben keine Ahnung, was passieren wird. Genauso wie du und ich keine Ahnung haben. Alles, was wir tun können, ist, Wahrscheinlichkeiten zu schätzen und immer im Hinterkopf zu behalten, dass wir damit eventuell falsch liegen.

● Es geht an der Börse nicht darum, Recht zu haben. Es geht darum, Geld zu verdienen. Und das klappt nur, wenn man sich Fehler eingesteht und Positionen, die nicht wie geplant laufen und Verluste produzieren, schnell wieder schließt.

● Vertraue niemandem, der behauptet, diesmal sei alles anders – egal, wie bekannt derjenige sein mag. Denn dieser Spruch ist wohl der teuerste, den es überhaupt an der Börse gibt (gleich danach kommt: “Es kann nicht höher steigen / tiefer fallen”). Schau selbst, was an den Märkten passiert und lass dich nicht von den Gurus blenden.

Es ist arrogant, zu glauben, dass jemand der Informationskapazität der Märkte überlegen ist. Völlig egal, wie clever er ist und wie gut seine Ideen klingen. Klar, man kann Glück haben und die Prognose tritt ein. Aber das ist keine Glanzleistung. In den Medien funktioniert diese Show aber gut, weil die erfolgreichen Prognosen hervorgehoben und die schlechten unter den Tisch gekehrt werden. Man hat ja schließlich einen Ruf zu verlieren. Auch das war ein Grund für den heutigen Beitrag – ein paar saftige Fehlprognosen zu zeigen, über die hinterher keiner mehr spricht.

Gute Beispiele sind auch die “Crash-Propheten”. Seit Jahren erzählen sie, dass der Markt jeden Moment zusammenbrechen wird. Währenddessen sind die Kurse seit 2009 um weit mehr als 100% gestiegen. Bitter, wenn man die ganze Zeit aus Angst an deren Aussagen glaubt und so die Aufwärtsbewegung verpasst oder gar Geld mit Short-Positionen verliert.

Wenn dann irgendwann mal ein Crash kommt, werden die Crash-Propheten natürlich gefeiert. Schließlich haben sie es ja “die ganze Zeit gewusst”. Warte mal ab, wenn es soweit ist, und lies dann die entsprechenden Artikel dazu. Meine Prognose, passend zum heutigen Thema: Auch diesmal wird das nicht anders sein.

Warum gibt es überhaupt so viele Prognosen am Markt, wenn es doch keiner wirklich weiß? Ganz einfach: Weil jeder seine Interessen verfolgt. Anlagegelder wollen eingesammelt, Fonds verkauft und Newsletter an den Mann gebracht werden. Nur ein aktiver Kunde ist ein guter Kunde, der immer wieder Gebühren generiert. Und dazu muss eben die Vertriebsmaschine auf Hochtouren laufen.

Außerdem wollen die Leute “unterhalten” werden. Sie glauben, durch die richtigen Tipps irgendwann das System durchschauen zu können. Viele sind einfach zu ungeduldig und gierig, immer auf der Suche nach einem heißen Tipp. Da sie sich aber allein zu unsicher sind, suchen sie immer wieder jemanden, der ihnen erzählt, was die Märkte demnächst so alles tun werden. Solange es die Märkte gibt, wird die Masse wohl immer wieder irgendjemandem Glauben schenken, der sich gut verkaufen kann. Auch das wird beim nächsten Mal nicht anders sein.

Der Markt bestimmt, wo es langgeht. Nicht irgendwelche Meinungen von sogenannten “Experten”. Wenn du also eigenverantwortlich Anlageentscheidungen triffst, dann überlege genau, auf wen du hörst. Und ob du überhaupt auf jemanden hörst. Vielleicht sind deine eigenen Überlegungen auf Basis von gesundem Menschenverstand am Ende um Längen besser.


Quellen:
[1] Syre, R. (2007), Diesmal ist wirklich alles anders, Zugriff am 15.06.2015,

http://www.manager-magazin.de/geld/arti ... 37,00.html

Marko Momentum