Warum der DAX 200 Punkte tiefer stehen müsste

Manche Dinge geraten schnell in Vergessenheit. Sobald in den Medien nicht mehr davon gesprochen wird, gelten die Dinge als abgehakt. Aber so mancher Effekt wirkt sich auch dann noch aus, wenn es schon lange keinen mehr interessiert.

Ein gutes Beispiel sind die Exzesse der Volkswagen-Stammaktie im Jahr 2008. Damals stieg der Kurs bis auf rund 1.000 Euro an und machte den Konzern für kurze Zeit zum wertvollsten Unternehmen weltweit. Zwar fiel die Aktie später wieder zurück. Aber im Vergleich zur vorherigen Situation hatte sich dennoch etwas geändert.

Denn die Kurskapriolen werden den DAX bis in alle Ewigkeit verzerren. Heute möchte ich dir zeigen, warum das der Fall ist und wie groß die Verzerrung ausfällt. Es ist eine wirklich spannende und wohl ziemlich einzigartige Geschichte.

Schauen wir zurück ins Jahr 2008. Im Herbst gab es den großen Crash am Aktienmarkt, als sich die Finanzkrise immer weiter ausweitete und letztlich der Markt mit der Pleite von Lehman Brothers zusammenbrach. Die Volkswagen-Aktie lief bereits zuvor viel stärker als der DAX.

Als der Markt am 27. und 28. Oktober zu einer großen Erholung ansetzte, schoss die Volkswagen-Aktie durch die Decke. Der Wert der Aktie stieg um rund 150% und tags darauf nochmals um rund 80%. So etwas habe ich bei einem DAX-Wert zuvor noch nicht einmal annähernd beobachtet.

Interessant dabei: Die Volkswagen-Vorzugsaktie machte diesen Exzess nicht mit – ein deutliches Zeichen dafür, dass der Effekt durch einen Liquiditätsengpass verursacht wurde. Genau so stellte es sich im Nachhinein auch heraus.

Im Februar 2009 erschien eine Studie, die die Folgen dieser Ereignisse untersuchte. [1] Dabei gab es 2 klare Ergebnisse:

● Crash-Dämpfer: Die Volkwagen-Rallye dämpfte den Kursverfall des DAX deutlich. In der Spitze führte dieser Sondereffekt für einen um mehr als 1200 (!) Punkte nach oben hin verzerrten DAX

● Zementierung: Normalerweise würde sich dieser Effekt wieder vollständig abbauen, sobald die VW-Aktie auf ein angemessenes fundamentales Niveau fällt. Allerdings gab es Ende Oktober 2008 eine außerordentliche Indexanpassung, bei der die maximale Gewichtung einer Aktie im Index auf 10% begrenzt wurde. Als die VW-Aktie schließlich fiel, hatte sie aufgrund dieses regulatorischen Eingriffs eine niedrigere Gewichtung als beim vorherigen Anstieg, bei dem die Gewichtung im DAX in der Spitze mehr als 27 Prozent betrug. Damit wurde bis zur nächsten regulären Anpassung am 19. Dezember 2008 ein Teil der exzessiven Kursbewegung bis zum Sankt Nimmerleinstag unwiederbringlich „zementiert“.

In der Studie wurde für diesen Stichtag eine Zementierung von rund 80 DAX-Punkten berechnet. Aber schauen wir uns nochmal genau an, wie der Effekt zustande kam.

Die Einführung einer Gewichtungs-Obergrenze sollte unverhältnismäßig hohe Gewichtungen einzelner Titel verhindern. Das macht natürlich Sinn. Allerdings wurde diese Maßnahme just im ungünstigsten Moment umgesetzt – nämlich gerade dann, als das DAX-Mitglied Volkwagen mit mehr als 10-Prozent gewichtet war.

Das führte zu einer irreparablen Verzerrung des DAX. Denn durch die plötzliche Deckelung der VW-Gewichtung wurden die relativen Gewichtungen aller anderen Aktien im Index ebenfalls beeinflusst, also jede einzelne Aktie zum Ausgleich etwas höher gewichtet. Ideal wäre es gewesen, die Obergrenze von Anfang an zu berücksichtigen. Aber hinterher ist man bekanntlich immer schlauer.

Doch auch mit den 80 Punkten Differenz per Dezember 2008 ist noch nicht Schluss. Denn die absolute Zementierung entwickelt sich mit dem DAX-Verlauf weiter. Um diesen Effekt zu berechnen, können wir näherungsweise einen linearen Zusammenhang annehmen, mit dem sich der Zementierungs-Wert bei DAX-Kursanstiegen erhöht und bei DAX-Kursverlusten verringert.

Durch den inzwischen deutlich höheren DAX-Stand hat sich die Zementierung auf rund 200 Punkte erhöht. Dies gilt bezogen auf einen DAX-Stand von 11.750 Punkten. Zwar lässt sich dieses Wissen im Trading nicht nutzen, aber es ist eine Anekdote, die interessant und sicherlich einzigartig ist. Einen Nutzen hatten nur damals Inhaber von Long-Positionen auf den DAX. Und natürlich alle, die den Aufwärts- oder Abwärtsimpuls der VW-Aktie erwischt haben.

Um die Zementierung endgültig loszuwerden, müsste der DAX auf Null fallen. Wir können uns also daran gewöhnen, dass die turbulenten VW-Kurse bis in alle Ewigkeit im deutschen Leitindex enthalten sein werden.

Noch ein Hinweis für alle Fans der Charttechnik. Das Ganze hat auch langfristige Auswirkungen auf die Kurslevel eurer Analysen. So ist infolge der Ereignisse zum Beispiel das finale März 2009-Tief bei 3589 Punkten eigentlich ein anderes: 3528 Punkte. Ebenso liegt zum Beispiel das alte Hoch aus dem Jahr 2007, damals 8152 Punkte, umgerechnet bei 8293 Punkten.

Momentan müssten wir eigentlich rund 200 Punkte vom DAX-Stand abziehen. Das wäre dann der “echte”, unverzerrte Kurs. Aber letztlich ist das Ganze am Markt inzwischen nur noch eines: Ein Kapitel in den Geschichtsbüchern.


Quellen:
[1] Funke, C. / Johanning, L. / Michel, G. (2009), Kurskapriolen der VW-Aktie: Auswirkungen auf den DAX und das aktive Fondsmanagement, Studie in Kooperation mit xtp Transaction Partners GmbH (Hrsg.), WHU Otto Beisheim School of Management.

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